Was ist Globales Lernen?
Wir leben in einer global vernetzten Welt und in einer Zeit mit raschen Veränderungen und dicht aufeinanderfolgenden Krisen. Die Herausforderungen sind mittlerweile deutlich spürbar: einerseits eröffnen sich mit beruflicher und privater Mobilität viele Möglichkeiten, um faszinierende Eindrücke und kreative Impulse zu bekommen, interessante Begegnungen zu erleben und Neues wahrzunehmen. Andererseits spüren wir die Folgen der Klimakrise, wissen um die ökologischen Gefährdungen unserer Lebensgrundlagen. Wir können uns den sozialen Spannungen aufgrund anhaltender (globaler) Ungleichheiten nicht mehr entziehen. Wir erleben das Aufeinandertreffen von Vertrautem, Unvertrautem und Irritierendem in unserer unmittelbaren Umgebung, in der Migrationsgesellschaft.
Obwohl sich globale Entwicklungen zum Teil unmittelbar auf unsere Lebenswelt auswirken, fällt es uns dennoch schwer, die treibenden Faktoren und die wichtigsten Auswirkungen dieser Veränderungen präzise zu fassen. Das Bildungskonzept Globales Lernen trägt dazu bei, diese Veränderungsprozesse wahrnehmen und verstehen zu können und befähigt Menschen dazu, Mitverantwortung für die Entwicklung der Weltgesellschaft zu übernehmen.
Globales Lernen – die Welt in den Blick nehmen
Die Welt in den Blick nehmen – mit dieser Metapher wurde Globales Lernen zu Beginn, in den 1990er Jahren, oft beschrieben. Globalisierungsprozesse, eine verflochtene Weltwirtschaft, zeitlich rasante Verdichtungen von sozialem Wandel und technologischen Entwicklungen – diese Phänomene haben das ausklingende 20. Jahrhundert geprägt. Die zunehmende Komplexität der Weltgesellschaft stellte auch neue Anforderungen an Bildung und an pädagogisches Denken und Handeln.
In diesem Umfeld hat sich das Bildungskonzept Globales Lernen entwickelt, das zum einen die Auseinandersetzung mit globalen Fragen als Querschnittsaufgabe von Bildung definiert. Mit der Forderung, die globale Dimension in alle Bildungsinhalte einzubeziehen, stellt Globales Lernen eine grundsätzliche Kontexterweiterung von Bildung dar. Zum anderen lenkt Globales Lernen den Blick auf Verhältnisse der Ungleichheit zwischen Globalem Norden und Globalem Süden und stellt die Vision von globaler Gerechtigkeit in den Mittelpunkt.
Die aktuelle Polykrise macht die großen globalen Herausforderungen und die Notwendigkeit tiefgreifender Veränderungen noch deutlicher. Obwohl wir über ein umfassendes Wissen verfügen, wie sehr unsere natürlichen Lebensgrundlagen durch die gegenwärtige Wirtschafts- und Lebensweise gefährdet sind, werden zu wenig konkrete Schritte für eine ökologisch nachhaltige Entwicklung gesetzt. Auch globale Ungleichheiten bleiben u.a. als Folge kolonial geprägter ökonomischer und politischer Strukturen aufrecht und die Umsetzung der 17 Nachhaltigkeitsziele liegt weit hinter den Erwartungen zuruück. Hier setzt Globales Lernen an: es will Menschen dazu befähigen, sich als Teil einer größeren, über die Grenzen des eigenen Staates hinausreichenden, Gesellschaft wahrzunehmen und daraus resultierende – individuelle und kollektive – Verantwortlichkeiten zu erkennen. Der Weg zu einer weltbürgerlichen Verantwortung ist nicht nur, aber auch eine Frage der Bildung.
Globales Lernen – Inhalte und Ziele
Auf der Spur von Schokolade die Bedingungen von Kakao-Anbau und -ernte kennenlernen, am Beispiel des T-Shirts mehr über die Arbeitsbedingungen in der Textilindustrie erfahren, die Jeans auf ihrem Weg vom Baumwollanbau bis in den Laden begleiten, anhand des Sportschuhs über Preisgestaltung, faire Arbeitsbedingungen und Löhne nachdenken oder sich anhand des Smartphones mit dem Abbau und dem Handel wichtiger Rohstoffe auseinandersetzen -Alltagsprodukte veranschaulichen globale wirtschaftliche Zusammenhänge.
Seit vielen Jahren bieten zivilgesellschaftliche Organisationen im Rahmen von Globalem Lernen inhaltlich und didaktisch gut aufbereitete Workshops zu Alltagsprodukten an, die ein Lernen über globale politische und ökonomische Zusammenhänge ermöglichen. In den Blickpunkt rücken dabei nicht nur der Ressourcenverbrauch, die Verschwendung nicht-nachwachsender Rohstoffe, der Verbrauch „Seltener Erden“ und all jene Umweltschäden, die im Zuge der Produktion von Konsumgütern entstehen, sondern die auf Konsum ausgerichtete Lebensweise. Mittlerweile hat diese Form Globalen Lernens, komplexe Zusammenhänge anhand von globalen Wertschöpfungsketten darzustellen, in Bildungsangeboten, Bildungsmaterialien, Sachbüchern und Schulbüchern weite Verbreitung gefunden.
Das Bildungskonzept Globales Lernen definiert die Auseinandersetzung mit den „Schlüsselfragen“ unserer Zeit, globalen Entwicklungen und Krisenphänomenen, als Querschnittsaufgabe von Bildung. Globales Lernen stellt Fragen nach globaler Gerechtigkeit, nach der Verteilung von Ressourcen und der Nutzung von Gemeingütern, es thematisiert unterschiedliche Konzepte von Entwicklung, globale Machtverhältnisse und die Einhaltung von Menschenrechten oder die Zusammenhänge zwischen unserem Lebensstil, dem vorherrschenden Wirtschaftsmodell und den weltweiten Mechanismen von Wettbewerb, Handel und Markt.
Eines der wichtigsten Ziele von Globalem Lernen ist es, (junge) Menschen auf das Leben in einer vernetzten und komplexen Weltgesellschaft vorzubereiten und sie zu befähigen, globale Entwicklungsprozesse sowie Zusammenhänge von lokalen und globalen Entwicklungen zu erkennen und kritisch zu reflektieren. Dabei sollen globale Entwicklungen aber auch als gestaltbare Entwicklungen wahrgenommen werden. Zu erkennen, welche Möglichkeiten zur Teilhabe und Mitgestaltung, auch bei komplexen, globalen Entwicklungen, jede/jeder Einzelne hat, ist wichtiges Ziel von Globalem Lernen.
Globales Lernen – kritisch betrachtet
In den letzten Jahren musste sich Globales Lernen der Kritik aus postkolonialer Perspektive stellen. Postkolonialismus fordert nicht nur die Kritik einer ungerechten Weltordnung ein, sondern eine kritische Auseinandersetzung mit den Folgen des Kolonialismus als wesentliche Ursache dieser ungerechten Weltordnung und gegenwärtiger Machtverhältnisse. Die Forderung nach einer systematischen Dekolonisierung bezieht sich auch auf Bildung und pädagogisches Denken und Handeln, auf Wissen und auf Wissenschaft. Postkolonialismus zeigt kritisch auf, dass nicht nur die Sicht der Kolonisierten verschwiegen wurde, sondern bis heute die Stimmen und Perspektiven aus dem Globalen Süden marginalisiert sind.
„Wessen Anthropozän“ fragt Nene Opoku vom Black Earth Kollektiv, um darauf hinzuweisen, dass differenzierter darüber zu sprechen ist, wer für die Verursachung von Klimakrise und Umweltzerstörung verantwortlich ist und wer die Folgen trägt. Neben der Differenzierung ist die Erweiterung von Sichtweisen notwendig, wie etwa durch das Lehren von Globalgeschichte als miteinander verwobener Geschichten verschiedener Regionen, das Öffnen für außereuropäische Literaturen oder das Anerkennen nicht-westlicher Philosophien. Die Debatte um postkoloniale Kritik und die Forderung nach systematischer Dekolonisierung hat bereits zu Änderungen in Inhalten und Angeboten des Globalen Lernens geführt, sie ist aber keinesfalls als abgeschlossen zu betrachten.
Global Citizenship Education
In den letzten Jahren hat sich mit Global Citizenship Education auch im deutschsprachigen Raum ein international anerkanntes pädagogisches Praxis- und Forschungsfeld etabliert. Global Citizenship Education lässt sich als eine Erweiterung von Globalem Lernen definieren. Global Citizenship Education bemüht sich um eine Verzahnung verschiedener pädagogischer Konzepte und entwickelt daraus eine neue Perspektive als politische Bildung für die Weltgesellschaft. Das Bildungskonzept fokussiert dabei nicht nur auf die Entwicklung einer individuellen kosmopolitischen, weltoffenen und verantwortungsvollen Haltung als „global citizen“. Es regt vielmehr an, sich mit politischen Strukturen und Rahmenbedingungen globaler Entwicklungen zu beschäftigen, globale Gerechtigkeit zu thematisieren, Macht- und Ungleichheitsverhältnisse in den Blick zu nehmen und schließlich Visionen für die Gestaltung einer menschenwürdigen Weltgesellschaft zu entwickeln. Bildungsprozesse müssen demnach so gestaltet sein, dass sie sowohl die weltbürgerliche Verantwortung des/der Einzelnen und Möglichkeiten zur Entwicklung entsprechender Kompetenzen fördern. Gleichzeitig will Global Citizenship Education die Individualisierung von Verantwortung, wie sie in vielen Bildungsangeboten zu Bildung für nachhaltige Entwicklung und Globalem Lernen vorherrscht, überwinden und sich vielmehr der Auseinandersetzung mit den strukturellen Fragen zuwenden. In diesem Sinn ist Global Citizenship Education politische Bildung, die sich in Bezug zur Weltgesellschaft stellt und sich mit den Umbrüchen und Krisen der Zeit auseinandersetzt.
Globales Lernen/Global Citizenship Education – Kompetenzen
Die Kluft zwischen der wachsenden Komplexität der globalisierten, vernetzten Weltgesellschaft und der Fähigkeit des Menschen, diese Komplexität zu bewältigen, bekommt immer stärkere Aufmerksamkeit. Diese Kluft kann durch Bildung überbrückt werden.
Welche Kompetenzen brauchen Menschen, um in dieser Weltgesellschaft Orientierung zu finden, um eigenverantwortlich und gemeinschaftsfähig zu leben? Welche Fähigkeiten sind notwendig, um im Bewusstsein der eigenen Verantwortung entscheidungs- und handlungsfähig zu sein? Welche Kompetenzen brauchen wir, damit Gesellschaften aus Krisen lernen? Welche Kompetenzen tragen zur kritischen Reflexion der eigenen (privilegierten) Position innerhalb der Weltgesellschaft und zur Stärkung eines weltbürgerlichen Verständnisses bei? Diese Fragen stehen im Mittelpunkt des Bildungskonzepts Globales Lernen/ Global Citizenship Education.
Globales Lernen umfasst komplexe Bildungsziele, für die Wissen, Fähigkeiten, Einstellungen und Werthaltungen sowie die Handlungsbereitschaft von großer Bedeutung sind. Ob sich Antworten auf diese Fragen sinnvoll in ein operationalisierbares Kompetenzmodell übertragen lassen, bleibt im erziehungswissenschaftlichen Diskurs umstritten. Die UNESCO nennt drei zentrale Dimensionen für Global Citizenship Education: die kognitive Dimension (u. a. Wissen um bzw. Verständnis für globale Zusammenhänge und Interdependenzen; kritisches Denken; Analyse- und Urteilskompetenz), die sozio-emotionale Dimension (u .a. Gefühl der Zugehörigkeit zur menschlichen Gemeinschaft; auf Menschenrechten beruhende Wertvorstellungen und Verantwortlichkeiten; Empathie, Solidarität und Respekt für Diversität und Vielfalt) und die verhaltensbezogene Dimension, die sich in der Motivation und Bereitschaft zu verantwortlichem Handeln auf lokaler, nationaler, globaler Ebene zeigt.
UNESCO-Broschüre:
Global Citizenship Education – Topics and learning objectives